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Lotusblätter Interview (Nr.1/2003)
Zen-Buddhismus für moderne Menschen
Interview mit Zen-Meister Seong Do über seinen Vortrag auf dem DBU-Kongress in Leipzig
Eines der Highlights des DBU-Kongresses in Leipzig war der eindrucksvolle Vortrag des Zen-Meisters Young San Seong Do "Moderne Menschen und Zen-Buddhismus". Der koreanische Zen-Meister steht dem International Zen-Temple in Berlin als Abt vor. Er gründete vor drei Jahren den Tempel, um auch Europäern den Zugang zum koreanischen Gong-An-(Koan)-Zen-Buddhismus zu ermöglichen. In kürzester Zeit verstand es Meister Seong Do, in seinem Berliner Zentrum eine große Zahl von Anhängern für die Zen-Praxis zu begeistern. Als Referent lieferte Zen-Meister Young San Seong Do einen wertvollen Beitrag zum Kongress-Thema:"Was der Buddha lehrte... Weisheit und Mitgefühl im Altag",- ein Thema, das auch viele Nicht-Buddhisten in Leipzig zur Teilnahme am Kongress motivieren sollte.
Michaela Doepke führte für die DBU folgendes Interview mit ihm über dieses Thema.
Michaela Doepke: Ihr Vortragsthema beim Leipziger Kongress war: „Die modernen Menschen und Zen-Buddhismus.“ Wie ist für Sie das Verhältnis des modernen Menschen zum Zen-Buddhismus? Welche Botschaft wollen Sie auf dem Kongress vermitteln?
Young San Seong Do: Der Zen-Buddhismus hat die Hauptaufgabe, den Geist des modernen Menschen zur Klarheit zu führen. Dadurch erkennt er seine wahre (Buddha-)Natur. Das ist der Grund, warum wir Zen-Meditation praktizieren. Aber der Geist der modernen Menschen ist von Konflikten und Verwirrungen, aber auch von zu viel Wissen belastet. Sie haben es daher schwer, die Zen-Übung durchzuführen. Durch die Zen-Meditation kann der Geist zur Ruhe geführt werden. Welcher Religion die modernen Menschen angehören, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Der moderne Mensch erhält dank der Zen-Übung eine Methode, mit dem Universum in Einklang zu leben.
Michaela Doepke: Muss die Lehre des Buddha heute an die Bedingungen der westlichen Welt angepasst werden?
Young San Seong Do: Ob zu Buddhas Lebzeiten oder heute: Buddhas Lehre ist immer die gleiche. Die Menschen, die den Dharma (Lehre) studieren wollen, sind gleich, - heute wie damals. Es ist wichtig zu wissen, dass im Buddhismus auf der absoluten Ebene keine Unterscheidungen getroffen werden. Nach der buddhistischen Lehre gibt es weder eine Unterscheidung zwischen Ost und West noch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Im Ursprung gibt es keine Unterscheidung der Richtungen. Deshalb können wir auch die ursprüngliche Lehre Buddhas unverändert vermitteln.
Nur die Methode des Lehrens ist an die moderne Gesellschaft anzupassen, da das Karma der leidenden Wesen auch verwandelt ist. Die fühlenden Wesen, die die Lehrer hören und versuchen, die Lehre zu verstehen, haben einen veränderten Geist gegenüber früheren Zeiten. Daher ist eine geeignete, zeitgemäße Methode der Vermittlung von Bedeutung. Trotzdem hat sich die ursprüngliche Bedeutung der Lehre Buddhas nicht verändert. Als solche kann sie heute genau so angewandt werden wie damals.
M.D.: Das Thema des DBU-Kongresses lautete: „Was der Buddha lehrte… Weisheit und Mitgefühl im Alltag.“ Wie kann der Zen-Buddhismus in der heutigen modernen Welt dazu beitragen, dass wir Europäer diese Geistesqualitäten entwickeln können?
Y.S.S.D.: Weisheit bezieht sich immer auf einen klaren Geist, frei von Unwissenheit. Die Zen-Meditation dient dazu, unseren verworrenen Geist zu erhellen und Weisheit zu erlangen. In diesem Prozess vollzieht sich Erleuchtung. Wir müssen aus der Dunkelheit erwachen, damit wir eine aufrichtige, erleuchtete Lebensweise kultivieren können. Wenn die fühlenden Wesen diese Art von Weisheit mit Hilfe der Zen-Übung praktizieren, werden sie ein glückliches Leben führen. Aus dem Leiden befreit zu werden, aus der Unwissenheit, den täuschenden Illusionen, den Schmerzen, - all dies entsteht aus dem Mitgefühl Buddhas.
“Allen religiösen Menschen verhilft die Zen-Praxis dazu, einen klaren Geist zu erzeugen.”
Mit anderen Worten: Eine Person aus der Unwissenheit zu erlösen oder aus der Unruhe zu befreien, ist eine Handlung des Mitgefühls. Weisheit und Mitgefühl werden durch die Zen-Meditation entwickelt. Ziel der Praxis ist es jedoch immer, dass sich die Wesen letzten Endes selbst aus ihrem Leiden befreien. Richtiges Mitgefühl im Dharma ist ein Geist, der hell und klar ist.
M.D.:Als Dharmaerbe des Groß-Zen-Meisters Hae Am stehen Sie in einer Übertragungslinie, die in direkter Folge bis auf die chinesischen Patriarchen zurückgeht. Merkmal dieser koreanischen Linie ist die große Kraft und Lebendigkeit, mit der sich das ursprüngliche Zen der chinesischen Meister erhalten hat. Worin besteht für Sie der Sinn einer solchen Tradition?
Y.S.S.D.: Patriarchen nennt man solche Mönche der Vergangenheit, die die wahre Buddha-Natur richtig erkannt haben und deshalb Schüler Buddhas sind. Für die Buddha-Natur gibt es keine Vergangenheit und keine Gegenwart. Sie ist in ihrer Essenz zeitlos und trifft keine Unterscheidungen. Derjenige, der in der Gegenwart erleuchtet ist, dessen Erleuchtung unterscheidet sich nicht von derjenigen früherer Buddhas. Die Erkenntnisse der Patriarchen der Vergangenheit über die Buddha-Natur sind die gleichen wie die Erkenntnisse der Patriarchen der Gegenwart. Diese tiefgründige Lehre, diese essentielle Erfahrung der Buddha-Natur weiterzugeben, das ist der Sinn unserer Tradition.
M.D.: Wie sind Sie nach Deutschland gekommen? Was ist Ihre Motivation, in Deutschland zu lehren?
Y.S.S.D.: Zen-Meister überwinden die Nationen wie die Orte. Sie machen keine Unterscheidung zwischen Ost und West, zwischen Europa und Asien. Deshalb werde ich überall dorthin gehen, wo leidende Wesen sind, um geistige Klarheit zu lehren. Viele Zen-Meister finden, dass die Vermittlung der buddhistischen Lehre in Deutschland sehr schwierig ist. Aber das glaube ich nicht. Genau deshalb, weil es ein schwieriger Ort sein kann für die Aufnahme des Buddhismus, genau deshalb bin ich hier. Deshalb ist der Zen-Buddhismus ganz besonders erforderlich für die Menschen in Deutschland.
Für die modernen Menschen ist es wichtig, dass Zen-Buddhismus unabhängig von einer bestimmten Religion verstanden wird. Wenn die Menschen in Deutschland mit ihrer starken Ausprägung der Religionen, ihren Zen üben würden, dann kann eine großartige spirituelle Entwicklung stattfinden. So könnten die guten Eigenschaften der jeweiligen Religion auf der ganzen Welt verbessert werden. Für die Christen gilt das gleiche wie für alle anderen Religionsanhänger: Wenn sie ihrem Gott dienen wollen, müssen sie ihren Geist klären. Allen religiösen Menschen verhilft die Zen-Praxis dazu, einen klaren Geist zu erzeugen. Nur wer mit diesem klaren Geist seiner Religion folgt, der erfasst den richtigen Sinn der Religion.
Michaela Doepke
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Lotusblätter (Nr.2/2002)
Die Gebote des Buddhismus sind Gebote des Geistes
LB 2/2002 Themenartikel Nr. 7:
Zen-Meister Young San Seong Do im Gespräch mit den Lotusblättern
Ethik und buddhistische Gebote stehen im Kontext menschlichen Handelns. Wer ist derjenige, der handelt? Die Frage nach den Geboten hat zu tun mit der Erforschung des eigenen Geistes, mit der Erforschung des Selbst und der Natur der Dinge. Die Arbeit mit dem zentralen Koan „Wer bin ich?“ ist Kern der Schulungsmethode des koreanischen Zen-Meisters Young San Seong Do, der seit 1998 in Berlin lebt und dort einen internationalen Zen-Tempel gegründet hat. Für die Lotusblätter sprach mit ihm in Berlin Hae In Seong.
Lotusblätter: Sie lehren in Berlin und in anderen Städten Deutschlands das Kongan-Seon [jap. Koan-Zen]. Was ist Kongan-Seon?
Young San Seong Do: Zunächst sollten wir über Seon, dann über Kongan sprechen. Das ist die richtige Reihenfolge, um Kongan-Seon zu verstehen. „Seon“, in Sanskrit „dhyana“, bedeutet, dass man den Geist in Stille betrachtet. In der langen Zeit seit Buddhas Tod bis heute haben zahllose Praktizierende viele unterschiedliche Methoden der Meditation entwickelt. Das Ziel der Praxis ist jedoch immer dasselbe geblieben, nämlich alle Leiden zu überwinden, die eigene wahre Natur zu erkennen und Erleuchtung zu erlangen. Bevor ich aber auf Ihre Frage nach dem Kongan-Seon antworte, möchte ich Ihnen auch eine Frage stellen: Was sind Sie? Ein Mensch? Gott? Ein Tier ... oder etwas anderes?
LB: Ein Mensch.
SD: Sie sagen, ein Mensch. Aber das ist nur eine Vorstellung, ein Gedanke. Was ist es, das weiß, dass es ein Mensch ist?
LB: Ich weiß es nicht.
SD: Ein Unwissendes sucht also ein Unbekanntes. Wenn Sie Ihr eigenes Selbst nicht kennen, ist es auch nicht wichtig zu wissen, was Kongan-Seon ist. Was nutzt es Ihnen zu wissen, was Kongan-Seon ist, wenn Sie nicht wissen, wer Sie sind? Wirklich wichtig ist, zu wissen, was man ist, was das eigene Selbst ist. Solange man keine Klarheit darüber hat, wer man ist, irrt man sich. Die Bemühung, das eigene Selbst zu erforschen, der Versuch, die eigene wahre Natur zu finden, das ist Kongan-Seon, unsere Praxismethode. Die Frage „Wer bin ich?“ ist ein Kongan, und die Bemühung, dieses Kongan zu durchbrechen, ist nichts anderes als Kongan-Seon.
LB: Sie sagten, Kongan-Seon sei gerade für moderne Menschen eine geeignete Meditationsmethode? Warum?
SD: Kongan-Seon ermöglicht es, den Alltag und die Meditation zu verbinden. Man muss seinen Alltag nicht aufgeben, auch im alltäglichen Leben kann man sein wahres Selbst erforschen. Dennoch wollen viele Menschen nur durch Sitzen an einem ruhigen Ort ihre wahre Natur erforschen und die Wahrheit finden. Das ist problematisch.
LB: Sie meinen, dass man nicht nur beim ruhigen Sitzen ins wahre Selbst eindringen kann, sondern auch bei jeglicher Tätigkeit? Also auch während der Arbeit?
SD: Hae In Seong!
LB:Ja.
SD: Was ist es, das „Ja“ antwortet? Existiert diese Person, die „Ja“ gesagt hat, nur beim Sitzen oder auch während der Arbeit?
LB: Sie existiert in jedem Moment.
SD: Wenn es so ist, dann kann man auch zu jeder Zeit, in jedem Zustand meditieren. Das Bemühen, diese Person zu ergründen, ist Seon-Praxis. Eigentlich ist es sehr einfach! Aber die meisten Menschen kennen diese Person in sich nicht und glauben, wenn sie nur lange genug ruhig dasitzen, könnten sie vielleicht etwas finden. Die Koan-Praxis dagegen ist eine Methode, die sich in jedem Augenblick des Tages und in jeder auch noch so betriebsamen Situation anwenden lässt. Wenn es eine Meditationsmethode gibt, die den Menschen in dieser schnelllebigen Zeit seine eigene wahre Natur nicht verlieren lässt, dann ist es diese Methode. Für Anfänger ist allerdings das Sitzen in Stille trotzdem sehr wichtig und darüber hinaus natürlich auch die regelmäßige Teilnahme an Intensivmeditationstagen (korean. Yong Maeng Jeong Jin). Dadurch gewinnt man die Kraft, mit der man die Meditation im Alltagsleben verankern und entwickeln kann.
LB: Welche Beziehung besteht zwischen der shila-Paramita und der Praxis des Seon, so wie Sie sie dargelegt haben?
SD: Shila, das Einhalten der Gebote, dient als Lebensorientierung. Im Buddhismus gibt es viele verschiedene Gebote; es gibt fünf Gebote, zehn, achtundvierzig, zweihundertfünfzig, dreihundertachtundvierzig usw. Sie alle sind Hilfsmittel, um den reinen Geist zu finden. Hat ein Übender aber den reinen Geist gefunden, gibt es kein Gebot mehr, das einzuhalten wäre. Deswegen spricht man auch von den buddhistischen Geboten als Geboten des Geistes. Der Geist wird rein, wenn man die Gebote des Geistes praktiziert. Alle Handlungen entspringen dem Geist. Ist der Geist rein, sind es auch die Taten. Deswegen sollten Anfänger vom Meister fünf oder zehn Gebote empfangen und diese stets einhalten. Die Gebote nicht einzuhalten, schadet der Praxis. Dennoch darf man zur Errettung anderer Menschen die Gebote ignorieren, aber danach sollte man sofort wieder zum Einhalten der Gebote zurückkehren, weil dies dem Praktizierenden selbst hilft. Für Anfänger ist die Einhaltung der Gebote wie eine Leiter, die zur Erleuchtung führt.
LB: In welchem Verhältnis steht shila zu den anderen Paramitas [1] dana: Geben, [2] sila: ethisches Verhalten, Sittlichkeit, [3] kasanti: Geduld, [4] virya: fortwährendes Bemühen, [5] samadhi: Versenkung, Meditation [5] prajna: Weisheit?
SD: Shila ist die Grundlage der sechs Paramitas. Sie ist die Lebensbasis der Praktizierenden und gibt ihnen die Kraft, mit der man die anderen Paramitas verwirklichen kann. Die sechs Paramitas sind Wegweiser, nach denen man im Mahayana-Buddhismus sein Leben richten sollte. Auf diesem Weg erreicht man am Ende das, was man als „große Güte und großes Erbarmen Buddhas“ bezeichnet. Wie kann man dies aber erreichen? Zuallererst ist das Gleichgewicht des Geistes notwendig. Der Geist selbst, der strahlend, klar und sicher ist, ist das wahre Gesicht Buddhas. Solch ein fester Geist entsteht durch die Verwirklichung der Gebote. Hält ein Praktizierender die Gebote ein und achtet sie, wird sein Geist immer ruhiger. Dadurch kann er sein durcheinandergeratenes Leben wieder korrigieren. Dabei kommt erfrischende Energie hoch, die ein neues Selbstbewusstsein fürs Leben mit sich bringt. Praktiziert man mit der neu gewonnenen Energie die anderen Paramitas, so kann man sich von allen Leiden des Lebens befreien. Das Leben wird friedvoll, und die große Weisheit der Erleuchtung offenbart sich. Letztlich ist die vollkommene Einhaltung der Gebote nichts anderes als der reine Geist selbst. Hat man einen reinen Geist, existiert kein zusätzliches Gebot mehr, das einzuhalten wäre:
“Erkennt man den eigenen reinen Geist nicht, ist dies eine Verletzung des Gebotes
Erkennt man den reinen Geist, gibt es kein Gebot, das einzuhalten wäre
Gibt es kein Gebot mehr, wo wäre da die Verletzung des Gebotes?“
LB: Haben Europäer besondere Schwierigkeiten, die buddhistischen Gebote einzuhalten und danach zu handeln?
SD: Die buddhistischen Gebote sind letztendlich praktische Hilfsmittel, um Erleuchtung zu erlangen. Deshalb ist das Handeln danach nicht vom Geburtsort oder von der kulturellen Zugehörigkeit abhängig, sondern nur davon, ob man der Lehre Buddhas folgt oder nicht. Auch für Asiaten, die nicht an Buddhas Dharma glauben, ist es schwer, die Gebote einzuhalten. Hingegen haben Menschen, die an Buddhas Lehre glauben und danach leben, einen freudvollen und erfüllten Alltag, unabhängig davon ob sie Europäer oder Asiaten sind. Der Buddhismus ist vor allem eine Religion der Praxis. Ein erleuchteter Meister sagte einmal, Praktizierende könnten durch die Einhaltung der Gebote samadhi, einen tiefen Ruhezustand des Geistes, erfahren und dadurch prajna, Weisheit, erlangen. Das (shila, samadhi, prajna) nennt man die dreifache Schulung. Deswegen sind dies die grundlegendsten Lebensrichtlinien für Buddhisten.
LB: Was bedeutet es für Sie als Seon-Meister, die Gebote einzuhalten?
SD: Für uns Seon-Mönche sind die Gebote wie „eine Nachricht, dass ein Lotus im Feuer blüht“. Ist es heiß, zieht man etwas aus, ist es kalt, zieht man etwas an. Wenn ich müde bin, schlafe ich.
LB: Sie sagten zuvor, dass gerade die Anfänger sich anstrengen sollten, die Gebote genaustens einzuhalten?
SD: Seon-Praxis bedeutet, alle Illusionen abzuschneiden, frei zu werden und alle Lebewesen vom Leiden zu erretten. Wenn jemand am guten Essen festhält oder an einem bestimmten Verhalten, wie könnte diese Person dann eine freie Person genannt werden? Gleichfalls, wenn Seon-Schüler an gutem Essen oder an einem lustvollen Leben festhalten, wie könnte man da sagen, dass sie korrekt praktizieren? Deshalb sollten Seon-Praktizierende fleißig die Sitzmeditation üben, um ihre eigene wahre Natur zu finden. Hat man seine wahre Natur gefunden, versteht man, dass kein Gebot einzuhalten ist. Als Gleichnis: Sind die Wurzeln eines Baumes gesund, muss man sich keine Sorgen um die Zweige oder Blätter machen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen, dass Sie stets fleißig praktizieren und alle Wesen erretten.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung (01.09.2001)
Das Drehmoment anhalten
Mit Youngsan Seong Do, Zen-Mönch
Notiert von Iris Hanika
Ich bin Zen-Mönch im „Berliner Zentrum für koreanischen Seon-Buddhismus“ an der Oranienstraße in Kreuzberg. Nach Deutschland bin ich gekommen, vor gut drei Jahren, weil es hier nur sehr wenige koreanische Mönche gibt, während es in Amerika relativ viele sind. Ich weiß zwar nicht viel über Deutschland, aber ich dachte mir, daß Religiosität hier vielleicht noch eine Rolle spielt. Die christliche Reformation hat ja in Deutschland stattgefunden, und das deutsche Volk hat in der Geschichte einen starken Willen gezeigt. Als ich hier dann allerdings die Leute auf der Straße sah, fand ich ihre Religiosität sehr verwässert. In Amerika kam sie mir viel stärker vor. Wenn ich den Leuten hier die Zen-Praxis vermittle, werde ich vielleicht dazu beitragen, daß sie ihr verlorenes Selbst wiedererlangen. Das ist letztendlich der Zen-Praxis.
Mein Alltag unterscheidet sich sehr von dem der Weltlichen, aber mein Leben hier in Deutschland unterscheidet sich nicht von dem in Korea. Ich wache um drei Uhr auf. Dann sitze ich zwei Stunden, das heißt, ich praktiziere Zen im Sitzen. Um fünf Uhr mache ich die erste Buddhawaschung, mit der ich meine Demut zeige. Ich werfe mich erst vor Buddha nieder, dann vor seiner Lehre, dann vor denen, die sie in der Vergangenheit praktiziert und verbreitet haben. Ihnen allen danke ich. Dann entzünde ich eine Räucherkerze und singe Mantras. Danach bitte ich Buddha darum, daß alle Lebewesen ihre Buddhaschaft erreichen, und schließlich bete ich noch für die Mitglieder dieses Tempels und für alle Leute, die von draußen hierherkommen, weil sie helfen, Buddhas Lehre zu verbreiten. Ganz zum Schluß spreche ich das Herz-Sutra in die Richtung, wo das Bild meines Lehrers hängt, aber in Korea stehen an dieser Stelle, rechts von Buddha, die hundertvier Geister, die seine Lehre schützen.
Danach sitze ich wieder zwei Stunden, dann gibt es ein kleines Frühstück und um zehn Uhr wieder eine Buddhawaschung. Danach widme ich mich dem Alltag ich empfange zum Beispiel Praktizierende, die Fragen haben. Am Nachmittag sitze ich wieder zwei Stunden, dann empfange ich wieder Praktizierende. Um fünf Uhr mache ich wieder eine Buddhawaschung, dann sitze ich wieder, und um neun Uhr gehe ich ins Bett. Das ist der Alltag eines Mönches, und er ist weder schwer noch kompliziert, sondern er ist so natürlich und so bequem, wie es das Wasser für einen Fisch ist.
Bei der Ordinierung habe ich das Zölibat gelobt, deswegen lebe ich allein. Auch beim Essen halte ich mich an Regeln: Ich esse nichts, was sehr stark riecht, wie Knoblauch oder Porree und natürlich auch kein Fleisch und keinen Fisch. Ich trinke auch keinen Alkohol und rauche nicht nicht, weil es verboten wäre, sondern weil es das geistige Leben, die Praxis behindert.
Gemäß Buddhas Lehre dreht sich alles im Samsara, dem Lebensrad, die ganze Welt, auch die Kultur. Die Kulturen aus dem Osten kommen her, und die hiesigen Kulturen gehen hin. In Korea zum Beispiel ist das Christentum heute viel stärker als hier, und der Buddhismus hat seinen Ursprung in Indien, aber dort gibt es ihn kaum noch. Er ist nach China gewandert, dann nach Korea, nach Japan, von dort nach Amerika, und jetzt ist er in Europa angekommen. Alles dreht sich. Und so muß eines Tages der Himmel die Erde sein und die Erde der Himmel. Aber muß ich mich denn mitdrehen, nur weil alles sich dreht?
In der Zen-Praxis wird das Drehen angehalten in dem, was Sie Meditation nennen. Ich möchte, daß wir alles zum Anhalten bringen und das verlorene Selbst wiedererlangen. Damit meine ich gar nicht, daß man sich zu einer bestimmten Religion bekennen muß. Zen heißt, daß wir zum Ursprung zurückkehren, zu dem Geist, der noch gar keine Religion kennt. Erst wenn wir Lauterkeit, die Reinheit des Geistes wiedererlangt haben, können wir Religion haben. Wenn wir in den Zustand vor den Begriffen zurückgefunden haben.
Bevor wir Mönche uns für die Zen-Praxis bewerben dürfen, müssen wir zwei bis fünf Jahre lang die Sutren studieren. Wenn ein Zen-Lehrer dann einem Schüler gestattet, sich der strengen Disziplin des Zen zu unterwerfen, geht der Schüler erst einmal in eine Einsiedelei. Ich dachte: entweder Zen oder Tod, so hart war ich damals. Dann verbrachte ich fast fünf Jahre in der Einsiedelei. Je mehr ich Zen praktizierte, desto vertrauter und freundlicher erschien mir die Welt, und ich hatte immer weniger Angst vor dem Tod. Ich besaß nichts außer meinem physischen Körper, aber mir fehlte nichts. Ich war voller Zufriedenheit, und wenn ich ein Blatt im Wind sah, erfüllte es mich mit Freude.
Wer die Zen-Praxis wirklich nötig hat, sind nicht wir Zen-Mönche, sondern die Weltlichen. Sie haben ein materielles Leben, aber der geistige Frieden fehlt ihnen.
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Der Tagesspiegel vom 14. Januar 2000
Die Befreiung von den 108 Leidenschaften
Wer an der zehntägigen Intensivmeditation im Kreuzberger Zen-Tempel teilnimmt, braucht Disziplin
Kreuzberg. Der Tag verläuft nach strengen Regeln und in völligem Schweigen: vier Uhr morgens aufstehen, 21.30 Uhr ist Schlafenszeit. Dazwischen liegen über zehn Stunden Meditation. Auch das Essen rein vegetarisch folgt einem genau festgelegten Ritual. Nichts soll die Konzentration stören. Die zehntägige Intensivmeditation im Internationalen Zen-Tempel in der Oranienstraße 22 verlangt äußerstes Durchhaltevermögen.
“Für Anfänger ist das nicht zu bewältigen”, sagt Tae Gong. Der Erzieher ist seit zehn Jahren praktizierender Buddhist und hat sich vor eineinhalb Jahren dem Zen-Meister Seong Do aus Korea als Schüler angeschlossen. Der 56-jährige buddhistische Mönch lehrt als einziger in Deutschland den klassischen Koan-Zen-Buddhismus der chinesisch-koreanischen Tradition. Ziel sei es, die fünf Sinne sowie das Denken und Empfinden einzig auf die Frage zu konzentrieren “Wer bin ich?” und damit zu einem “reinen Bewusstsein” zu kommen, erklärt Tae Gong.
Dazu müssen sich die Teilnehmer der monatlichen Intensivmeditation zwei Mal täglich auf symbolische Art von den 108 Leidenschaften des Daseins befreien. Dies geschehe durch die sogenannten “Niederwerfungen”, eine Art Verbeugung, erklärt Tae Gong. Doch trotz der strengen Regeln nehme seit der Gründung des Zen-Tempels vor einem knappen Jahr die Zahl der Interessierten ständig zu. Beim letzten Mal waren es 48 Frauen und Männer, die sich den asketischen Ritualen unterzogen.
Wöchentlich angeboten werden außerdem Meditationsübungen sowie Vorträge des Zen-Meisters. Neben Deutschen gehörten auch Engländer, US-Amerikaner, Polen und Italiener zu den regelmäßigen Besuchern, berichtet Tae Gong. Zu Wochenendseminaren reist der Meister gele-gentlich auch nach Köln oder München.
In Kreuzberg führt der Weg zum Tempel durch zwei Toreingänge auf einen Hinterhof. Die erste Etage des ehemaligen Fabrikgebäudes strahlt mit seinen weißen Wänden, hellen Bastmatten und zahlreichen Pflanzen eine einladende Atmosphäre aus. Im Andachtsraum dominiert eine goldfarbene Buddha-Statue, Schriftzeichen schmücken die Wände. Doch die schlichte Gestal-tung bietet kaum Ablenkung.
Der Buddhismus helfe den Menschen, sich von Bewertungen und Abhängigkeiten frei zu machen und in der unmittelbaren Gegenwart zu leben, versucht Zen-Meister Seong Do das wachsende Interesse an seiner Religion im westlichen Kulturkreis zu erklären. Ziel sei es, sein Leben aus eigener Kraft und Verantwortung zu führen. Jeder könne diesen “glücklichen Geisteszustand” erreichen, betont der Meister. “Die buddhistische Lehre ist einfach.”
Übung und Ausdauer sind allerdings Voraussetzung. Auch nach jahrelanger Praxis, räumt Tae Gong ein, brauche er immer noch einige Zeit, um sich in den Zustand höchster Konzentration zu versetzen. Und auf die Frage, ob es nicht schwierig sei, die buddhistischen Einsichten an-zuwenden, gibt Seong Do zur Antwort, das müsse sich schon jeder selbst beantworten. “Denn”, so der Meister, “die Welt entsteht aus deinem Bewusstsein.”
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